Merck: Klinische Studien optimal planen und umsetzen 

Quantensprünge

25.11.2022

Wie das Wissenschafts- und Technologieunternehmen die Entwicklung und Zulassung neuer Medikamente beschleunigen will

Klinische Studien sind für die Entwicklung und Zulassung neuer Wirkstoffe unersetzlich, doch ihre Komplexität und Abhängigkeit von sich gegenseitig beeinflussenden Parametern macht ihre optimale Planung in der Praxis nahezu unmöglich. Versuche, Studiendesigns mit Hilfe klassischer Machine Learning-Ansätze zu optimieren, stoßen an ihre Grenzen. Der Wissenschafts- und Technologie-Konzern Merck setzt deshalb auch auf den Einsatz von Bayes’schen Netzen, Quantencomputern – und den Austausch mit anderen Expert*innen in QUTAC.

Thomas Ehmer, Innovation Incubator Lead bei Merck ©Merck

Thomas Ehmer, Innovation Incubator Lead bei Merck © Merck KGaA

Planung klinischer Studien: Eine komplexe Herausforderung 

Dass nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie bereits nach vergleichsweise kurzer Zeit – kaum mehr als zwei Jahren – mehrere Impfstoffe entwickelt und zur Verfügung gestellt werden konnten, gilt als Sternstunde der modernen Pharma-Forschung. „In der Breite ist dieser Erfolg aber weiterhin, leider, die Ausnahme“, erklärt Thomas Ehmer. „In der Regel dauert die Entwicklung und Zulassung neuer Medikamente deutlich länger.“ Ein wesentlicher Faktor: Klinische Studien, die es braucht, um die Wirksamkeit und Sicherheit eines Wirkstoffs zu testen. Wie lang eine Studie dauere und wie wirtschaftlich erfolgreich sie sei, hänge von vielen Einflussfaktoren ab, so Ehmer. Er muss es wissen: Als Innovation Incubator Lead der Merck Gruppe arbeiten er und seine Kolleginnen und Kollegen intensiv daran, mithilfe innovativer Lösungen unter Anderem klinische Studien effizienter zu gestalten. 

Ein Beispiel, um sich zu vergegenwärtigen, wie komplex es sei, derartige Studien zu planen, sagt Ehmer, sei etwa die Abstimmung von Teilnehmerrekrutierung und Wirkstoffproduktion. „Letztlich ist alles eine Frage des richtigen Timings. Sind sie zu ambitioniert und rekrutieren früh eine große Anzahl an Teilnehmern, wird es gerade bei biologischen Wirkstoffen schwierig und teuer, rechtzeitig ausreichend Wirkstoff bereitzustellen. Verzögert sich die geplante Rekrutierung, können womöglich Wirkstoffe wegen ihres Alters nicht mehr verwendet werden.“ Auch Pharmaprodukte haben ein Verfallsdatum. Unsicherheiten wie diese führen dazu, dass Unternehmen bei klinischen Studien oft hinter ihren Möglichkeiten zurück bleiben. Ehmer nennt Zahlen aus einer wissenschaftlichen Erhebung, die sich mit der Thematik befasst: „48 Prozent der Studien-Einrichtungen verpassen ihre Rekrutierungsziele. 75 Prozent der Studienprotokolle müssen angepasst werden.“ Er ist sich sicher: „Eine optimierte Studienplanung kommt nicht nur der Pharma-Branche unmittelbar finanziell zugute – sondern in erster Linie den Patienten, die weniger lange auf die Zulassung neuer Medikamente warten müssen.“ 

Klinische Studien optimieren mithilfe Bayes’scher Netze und Quantencomputing 

Schon heute nutzen deshalb Pharma- und Biotech-Unternehmen digitale Planungstools, um besser abschätzen zu können, wie die Wahl bestimmter Einflussfaktoren den Verlauf ihrer Studien verändern wird. Merck setzt hierfür auf ODeSA (Operational Design and Study Accelerator), eine Simulationsplattform, die mithilfe von Inputs zu verschiedenen Treibern einer Studie dessen wahrscheinlichste Rekrutierungskurve berechnet, also die Entwicklung der voraussichtlichen Teilnehmerzahlen innerhalb eines bestimmten Zeitfensters. Das System hilft dem Unternehmen, verschiedene Rekrutierungsszenarien durchzuspielen. Allerdings, betont Ehmer: „Bislang noch sehr iterativ.“ Die Experten von Merck füttern ODeSA mit Vorschlägen für ein Studiendesign und erhalten die auf dieser Basis errechneten Szenarien zurück. „Die Ergebnisse stellen uns zufrieden – oder nicht. In letzterem Fall passen wir unsere Kombination an Inputs an, um eine bessere Rekrutierungskurve zu erhalten.“ Diesen Vorgang wiederholt das Team, bis es ein vorläufig optimales Ergebnis erhält. „Was das System noch nicht kann: Die Studienplanung automatisiert optimieren, uns also – umgekehrt zum bisherigen Vorgehen – für eine ideale Rekrutierungskurve die nötigen Einflussfaktoren nennen. Derartige Optimierungsprobleme sind für Anwendungen auf herkömmlichen Rechnern schlicht zu komplex.“ 

Deshalb loten Thomas Ehmer und sein Team die Möglichkeiten aus, klinische Studiendesigns mithilfe des Quantencomputing zu optimieren. In einem durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt arbeitet Merck gemeinsam mit Partnern daran, Quantenalgorithmen zu entwerfen, zu entwickeln und zu bewerten, mit deren Hilfe klinische Studien optimiert werden können. Dabei spielt der Einsatz Bayes’scher Netze eine große Rolle. Der Begriff bezeichnet probabilistische grafische Modelle, die es erlauben, eine Reihe von Variablen und ihre bedingten Abhängigkeiten graphisch darzustellen. Sie eignen sich deshalb besonders dafür, die Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, mit der ein bestimmtes, eingetretenes Ereignis auf eine Reihe von mehreren, möglichen bekannten Ursachen zurückzuführen ist. Für die Ermittlung der idealen Inputs für ein optimiertes Studiendesign scheinen solche Netze also wie geschaffen. Allerdings stoßen klassische Computer hier zunehmend an ihre Grenzen, wenn es darum geht, besonders komplexe Netzwerke zu berechnen. Quantencomputer könnten hier also womöglich Abhilfe schaffen.  

QUTAC: Branchenübergreifende Zusammenarbeit und Innovation 

In dem Projekt gehe es auch darum, herauszufinden, ob solche Optimierungen bereits mit Quantencomputern der aktuellen Generation, oder solchen der nahen Zukunft, also noch im Rahmen der sogenannten „NISQ“-Ära („Noisy Intermediate-Scale Quantum“), lösbar sein werden. Thomas Ehmer gibt sich optimistisch und betont die Bedeutung, die ein Erfolg des Projekts hätte, auch über den Anwendungsfall klinischer Studien hinaus: „Wenn wir zeigen können, dass Quantencomputer sich praktisch dafür eigenen, komplexe Abhängigkeitsbeziehungen mithilfe Bayes’scher Netze zu optimieren, eröffnet uns das die Möglichkeit, eine ganze Reihe ähnlich komplexer Herausforderungen anzugehen.“ Als Beispiele nennt er etwa die Reduktion von CO2-Emissionen oder die verbesserte Eindämmung ansteckender Krankheiten. Beide Phänomene – Emissionen und Krankheiten – seien oft von einer ähnlich undurchsichtigen Menge von sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren abhängig. Außerdem gebe es bislang für viele dieser Faktoren und ihre Zusammenhänge schlicht keine bzw. nur wenig Daten, was sowohl das datenhungrige klassische Machine Learning als auch klassische Simulationen nahezu unmöglich mache. Das mache Emissionen und Krankheiten zu geeigneten Kandidaten für die Analyse, Simulation und Optimierung mithilfe derartiger Netze. “Im Idealfall lassen wir uns durch das System künftig unterschiedliche mögliche Lösungen vorschlagen, die wir dann lediglich auf ihre Sinnhaftigkeit prüfen müssen.” Dadurch lerne man vielleicht neue Zusammenhänge, könne gezielt das Problem der nicht vorhandenen Daten angehen und im nächsten Schritt auch wieder etablierte klassische Methoden benutzen, um Vorhersagen des Systems zu validieren. “Ein Win-Win durch Tanz der Methoden“. 

Die Arbeit im Projekt profitiere sehr vom Austausch, den das Team von Merck mit Kollegen außerhalb des Konzerns pflege, so Ehmer, gerade innerhalb von QUTAC. „Das Konsortium ist einer der wenigen Orte, in denen Expert*innen mit ähnlichem Hintergrund und ähnlichen Herausforderungen in dieser Konstellation zusammenkommen. Alle erarbeiten Lösungen, die im Kontext großer Industrieunternehmen funktionieren müssen. Gleichzeitig sind unsere branchenspezifischen Rahmenbedingungen teilweise sehr unterschiedlich und die Menschen hinter QUTAC sehr divers. Es gibt also keine Scheuklappen, kein Silodenken. Nur den Willen zur Innovation.“