Infineon: Mit Quantencomputern langfristig internationale Lieferketten optimieren

Quantensprünge

27.07.2022

Die Halbleiterindustrie ist geprägt von globalen Lieferketten

 

In diesem komplexen Lieferkettennetzwerk zu einem optimalen Ergebnis zu finden, ist eine Herausforderung – auch für Branchengrößen wie Infineon. Um weiterhin führend zu bleiben, setzt das Unternehmen darum langfristig auch auf eine der Zukunftstechnologien unserer Tage: Das Quantencomputing.

 

Lilly Palackal, Quantum Algorithms Team Lead in Supply Chain Innovation, und Hans Ehm, Senior Principal Supply Chain Management bei Infineon © Infineon Technologies AG

Lilly Palackal, Quantum Algorithms Team Lead in Supply Chain Innovation, und Hans Ehm, Senior Principal Supply Chain Management bei Infineon © Infineon Technologies AG

Globale Lieferketten und ihre Herausforderungen  

Die Halbleiterindustrie basiert auf globalen Lieferketten. Die Gründe hierfür finden sich sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrage-Seite: Einerseits bedient sie ein breites globales Kundenspektrum mit einer oft schwankenden Nachfrage nach unterschiedlichsten Produkten. Andererseits nutzen Unternehmen unterschiedlichste Produktionsstätten auf der gesamten Welt. Das müssen sie auch, denn die Herstellung von Halbleitern ist langwierig und komplex. Hans Ehm, Senior Principal Supply Chain Management bei Infineon, vergleicht die Halbleiterproduktion mit dem Backen einer mehrstöckigen Torte: „Der gesamte Ablauf ist streng sequenziell. Einzelne Schritte lassen sich nicht parallelisieren, sondern können nur nacheinander erfolgen, Schicht für Schicht, aber nicht immer am selben Ort. Da kann es bei einigen komplexen Halbleitern schon mal ein halbes Jahr oder mehr dauern, bis ein Bauteil mit über 1000 Prozessschritten fertiggestellt ist. Und das, obwohl die Produktion 24 Stunden am Tag an 365 Tagen im Jahr auf Hochtouren läuft und ein System für ‚complex flow production‘, welches die Geschwindigkeit optimiert, zur Anwendung kommt.“ Aktuell sehen sich Halbleiterproduzenten auf der ganzen Welt der gleichen Herausforderung gegenüber: Chips sind knapp, während Digitalisierung und Dekarbonisierung die Nachfrage weiter ansteigen lassen. Auch deshalb hält Ehm die Optimierung der Lieferketten für einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.  

Eine besondere Herausforderung sieht er darin, innerhalb dieser modernen, komplexen Lieferkette einen optimalen „Available-to-Promise“ (ATP) zu bestimmen. Der Begriff meint den Bestand, der zu einem bestimmten Zeitpunkt im Verkaufslager ankommen wird und den ein Unternehmen seinen Kunden zusagen kann.  

Demand-Capacity-Matching und das „Rucksack-Problem 

Um diesen zukünftigen Bestand bei schwankendem Bedarf täglich vorhersagen zu können, haben Infineon und andere Unternehmen alternative Fertigungsstrecken aufgebaut, die tagesaktuell in einem „Demand-Capacity-Matching“ optimiert werden, also einer Abstimmung von Bedarf und vorhandenen Kapazitäten für den optimalen Bestand. Mit dem so ermittelten ATP können Tag für Tag über eine Million Auftragselemente bestätigt werden. Aktuell ist es mit klassischen Rechnern unmöglich, das dahinterliegende Optimierungsproblem als Ganzes zu lösen. Deshalb behelfen sich viele Unternehmen derzeit mit einer Reihe unterschiedlicher Heuristiken und Solver, die die Aufgabe in Teilprobleme zerlegen und näherungsweise lösen. Eine gute Chance auf eine ganzheitliche Lösung sieht Hans Ehm in der Anwendung von Quantencomputern. Sie geben Anlass zur Hoffnung, Aufgaben wie die tägliche Optimierung des Demand-Capacity-Matching für einen verbesserten ATP und die darauf basierenden Auftragsbestätigungen gemeinsam zu lösen. 

„Herausforderungen wie das Matching-Problem globaler Lieferketten lassen sich auch als Varianten des ‚Rucksack-Problems‘ verstehen“, erklärt Lilly Palackal, die als Quantum Algorithms Team Lead in Supply Chain Innovation das Thema bei Infineon betreut und sich auch innerhalb von QUTAC mit ihm befasst. In seiner einfachsten Form werde das Problem oft wie folgt dargestellt: Eine Person möchte einen Rucksack packen. Dabei kann sie aus verschiedenen Gegenständen wählen, die alle über ein bestimmtes Gewicht und einen Nutzwert verfügen. Welche Auswahl soll die Person treffen, wenn sie die maximale Tragelast des Rucksacks nicht überschreiten darf, und die Kombination mit dem höchsten Nutzwert packen möchte? „Beim Demand-Capacity-Matching geht es darum, aus etwa einer Million Aufträge, die täglich bestätigt werden, den optimalen ATP zu ermitteln“, so Palackal. „Das ist natürlich deutlich komplizierter als das Packen eines Rucksacks, doch die zugrundeliegenden Probleme sind sich sehr ähnlich.“ Dank ihrer Fähigkeit, spezielle quantenmechanische Effekte wie Superposition und Verschränkung zu nutzen, erklärt Palackal, sind Quantencomputer in der Lage, spezielle Quantenalgorithmen anzuwenden, die für die schnellere Lösung einiger Aufgabenstellungen sehr geeignet sind. Der Fokus liegt nun darauf, Quantenalgorithmen für das Lösen von Optimierungsproblemen nutzbar zu machen.

Wissen teilen für das Quantencomputing-Ökosystem von Morgen  

Wann genau die Technologie so weit sein wird, kommerziell für das Demand-Capacity-Matching genutzt zu werden, lässt sich nur schwer vorhersagen. Trotzdem sei es wichtig, schon heute an der Entwicklung von Lösungen zu arbeiten, erklären Hans Ehm und Lilly Palackal. „Nicht aus Sorge, womöglich den Anschluss zu verpassen“, betont Ehm, „sondern um bei dieser Zukunftstechnologie eines Tages führend zu sein“. Die langen Entwicklungszeiträume im Quantencomputing beunruhigen ihn nicht. „Bei jeder technologischen Innovation mussten Wissenschaftler und Ingenieure zuerst lange Zeit gedankliche Vorarbeit für die praktische Anwendung leisten, ehe sie Eingang in die Wirtschaft finden konnten und ihre kommerzielle Nutzung möglich wurde.“  

In der aktuellen Phase sei ein Konsortium wie QUTAC ideal, so Ehm. „In der Halbleiterindustrie sind Konsortien üblich, um in vorwettbewerblichen Phasen gemeinsam nach Lösungen zu suchen“, erklärt er. Für Infineon sei es darum selbstverständlich, auch das Thema Quantencomputing auf diese Weise anzugehen. In der QUTAC Arbeitsgruppe für Produktion und Logistik, in der das Unternehmen aktiv ist, habe die Kooperation schon sehr konkrete Züge angenommen, sagt Lilly Palackal. „Unser Demand-Capacity-Matching ist einer von mehreren Use Cases, an denen die Gruppe konzentriert arbeitet. Hier haben wir sehr von dem Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Unternehmen profitiert.“ Es ist ein selbstgestecktes Ziel von QUTAC, die erworbenen Erkenntnisse weitgehend zu teilen, so Hans Ehm: „Wenn wir unser Wissen teilen, bringt es nicht nur uns, die Mitglieder, voran, sondern das gesamte Quantencomputing-Ökosystem. So tragen wir dazu bei, dass Lösungen entwickelt werden, von denen viele Unternehmen und Organisationen über Branchengrenzen hinweg profitieren werden.“